Je schwerwiegender der Eingriff, desto wichtiger die Zweitmeinung

Das vor einem Jahr in Kraft getretene GKV-Versorgungsstärkungsgesetz gibt dem Recht auf ärztliche Zweitmeinung einen gesetzlichen Rahmen. Verbessert hat sich dadurch wenig – im Gegenteil: Die Frage, wer überhaupt Anspruch auf eine zweite Meinung hat, ist immer noch ungeklärt und die Verunsicherung groß.

Egal ob Blinddarmoperation, Knie-OP oder Kaiserschnitt – wer unsicher war, ob die Therapieempfehlung seines Arztes richtig ist, hatte bislang mit dem Recht auf freie Arztwahl nach § 76 SGB V prinzipiell die Möglichkeit, bei einem anderen Arzt eine unabhängige zweite Meinung einzuholen. Laut einer repräsentativen Studie der Bertelsmann Stiftung hat dies bereits jeder vierte Bürger getan; jeder Dritte hat darüber nachgedacht.

Rechtlich klar geregelt war der Anspruch allerdings nicht. Im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, das im vergangenen Jahr in Kraft trat, wird der Leistungsanspruch auf ärztliche Zweitmeinung nun explizit verankert. Allerdings schaffe es dabei mehr Unsicherheit als Klarheit, kritisiert Susanne Mauersberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände (vzbv).

Das Gesetz droht, den Patienten zu vergessen

Das Recht auf eine ärztliche Zweitmeinung haben Patienten demnach nur noch bei planbaren Eingriffen, die in Deutschland auffällig oft durchgeführt werden, und bei denen nicht auszuschließen ist, dass die Empfehlung des Arztes durch finanzielle Motive geleitet ist. Der Fachbegriff hierfür lautet „mengenanfällige Eingriffe“.

Für welche Eingriffe der Anspruch auf eine zweite Meinung genau gilt, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das Selbstverwaltungsorgan von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen. Die Festlegung sollte bis zum 31. Dezember 2015 erfolgen – passiert ist bislang jedoch nichts. Die „umfangreiche wissenschaftliche Aufbereitung“, wie es beim G-BA heißt, dauert anscheinend länger als erwartet.

Als typische Beispiele für sogenannte „mengenanfällige Eingriffe“ nennen Experten Operationen an der Wirbelsäule oder Spiegelungen des Kniegelenks. Patienten haben jedoch nicht nur bei Knie-, Hüft- oder Rückenproblemen Beratungsbedarf. Wie sinnvoll eine zweite ärztliche Behandlungsempfehlung auch bei kleineren Beschwerden sein kann, zeigt dieses Beispiel:

Diagnose Nierensteine

Eine Woche lang spürte ich wiederholt einen starken, ziehenden Schmerz auf der linken Körperseite, unterhalb des Brustkorbs. Ich ging zum Arzt. Dieser untersuchte den Urin, stellte ein paar Fragen und überwies mich zum Urologen. Verdacht: Nierensteine. Der Urologe machte einen Ultraschall, untersuchte die inneren Organe und bestätigte die Vermutung. Er sei jetzt allerdings im Urlaub. Wenn noch etwas sei, sollte ich ins Krankenhaus gehen. Mir kam das Ganze komisch vor. Ich ging zu einem anderen Arzt, informierte ihn über den ersten Befund und bat ihn um seine Einschätzung. Die zweite Diagnose: ein eingeklemmter Nerv. Schmerzhaft, aber im Grunde nicht weiter schlimm. Nach 14 Tagen war das unangenehme Stechen verschwunden.

Grundsätzlich ein harmloser Fall, er zeigt jedoch, wie hilfreich es sein kann, einen zweiten ärztlichen Rat einzuholen. Schwerer wiegt die Sache bei Krebs. In der bereits zitierten Gesundheitsmonitor-Studie der Bertelsmann Stiftung wurde auch gefragt, bei welchen Erkrankungen sich die Bürger eine Zweitberatung zu Therapiemaßnahmen wünschen: Krebserkrankungen waren der Spitzenreiter. Besonders wichtig war den Befragten die Zweitmeinung bei Chemotherapie und Bestrahlung. Bislang sind Krebserkrankungen – abgesehen von wenigen Ausnahmen – jedoch nicht mengenauffällig. Der G-BA könnte sie also, wenn er den Kriterienkatalog endlich fertiggestellt hat, vom Recht auf Zweitmeinung ausschließen.

Verfehlter Sparwille schadet Vertrauen und Patientenwohl

Bei nicht „mengenanfälligen Eingriffen“ bleibt es den gesetzlichen Krankenkassen also zukünftig selbst überlassen, ob sie ihren Mitgliedern eine Zweitmeinung ermöglichen (und bezahlen) oder nicht. Da sie ihre Versicherten nicht an eine andere Kasse verlieren wollen, werden sie das vermutlich tun. Trotzdem sollten sich Patienten in Zukunft lieber vorab erkundigen, ob ihre Krankenkasse die ärztliche Zweitmeinung tatsächlich erstattet – sonst flattert am Ende vielleicht eine ungebetene Rechnung ins Haus.

Sagt die Krankenkasse Nein zur Zweitmeinung, bleibt die Möglichkeit, den zweiten Arzt nicht über den vorherigen Arztbesuch in Kenntnis zu setzen. Dabei kann es jedoch passieren, dass wichtige Unterlagen wie Befunde oder Röntgenbilder außer Acht gelassen werden. Außerdem geht etwas sehr Wichtiges verloren, ohne das keine Arzt-Patienten-Beziehung auskommt: Vertrauen.

Dass bestimmte Eingriffe und Operationen allzu häufig durchgeführt werden, steht außer Frage. In einigen Bundesländern werden Mandeln, Blinddarm und Prostata bis zu acht Mal häufiger operativ entfernt als in anderen. Rein medizinisch lassen sich diese Unterschiede nicht erklären.

Bei dem Recht auf ärztliche Zweitmeinung sollte jedoch nicht der Wunsch zu sparen im Vordergrund stehen, sondern das Wohl des Patienten. Anstatt über Monate zu definieren, welche Eingriffe „mengenanfällig“ sind und welche nicht, sollten die Entscheider doch auch fragen, bei welchen Krankheiten und Therapieentscheidungen die Versicherten tatsächlich Beratungsbedarf haben.