Wer auf Betreuung angewiesen ist, darf zwar arbeiten – aber nicht wählen. Das soll sich ändern. Doch ob die Koalition das Vorhaben nun auch umsetzt, ist offen.
In rund vier Monaten ist Europawahl – bestimmte Menschen mit Behinderung dürfen dabei möglicherweise erstmals wählen. Der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel dringt auf ein Ende des bestehenden Ausschlusses dieser Menschen von bundesweiten Wahlen. „Hinter den Wahlrechtsausschlüssen steht oftmals ein anachronistisches Menschenbild“, sagte Dusel der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. In der Opposition wachsen Zweifel daran, dass die entsprechende Reform rechtzeitig vor der Europawahl kommt.
Union und SPD hatten im Koalitionsvertrag die Beendigung dieser Ausschlüsse vereinbart. Bereits seit Wochen verhandelt die Koalition hinter den Kulissen über dieses Thema. Dusel mahnte: „Gerade wir Deutschen sind aufgefordert, besonders wachsam zu sein, wenn bestimmten Bevölkerungsgruppen pauschal Grundrechte entzogen sind.“ In manchen Bundesländern dürfen Betroffene wählen.
Laut Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes aber ist von Wahlen ausgeschlossen, wer seine Angelegenheiten nicht selbst regeln kann und deshalb in allen Bereichen eine Betreuerin oder einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen hat. Betroffen sind mehr als 80.000 Menschen in Deutschland. Dusel sagte: „Es geht zum Beispiel um Menschen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeiten und durchaus politisch interessiert sind.“
In vielen anderen EU-Staaten gibt es solche Ausschlüsse vom Wahlrecht nicht. Oder es ist eine richterliche Entscheidung im Einzelfall nötig. Auf einer Homepage eines Projekts über Menschen mit Down-Syndrom werden etwa Fernsehbeiträge zum Thema gezeigt. Der Vater eines Betroffenen wird dort zum Beispiel zitiert mit der Einschätzung, sein Sohn durchdenke seine Entscheidungen: „Er kann logisch denken.“
Dusel kritisierte: „Die pauschale Aberkennung demokratischer Grundrechte steht unserer Demokratie nicht gut zu Gesicht.“ Da das Wahlrecht ureigenes Gebiet des Parlaments sei, sollte ein entsprechendes Gesetz auch aus der Mitte des Parlaments kommen.
Dies ist auch geplant. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums verwies darauf, dass zwischen den Koalitionsfraktionen derzeit Gespräche dazu stattfänden, wie eine Beendigung der Wahlrechtsausschlüsse umgesetzt werden solle.
Aus der Opposition im Bundestag ist zu hören, dass mit dem Wechsel der Fraktionsspitze in der Union vom Willen zu einer Änderung des Wahlgesetzes nicht viel übrig geblieben sei. Im September hatte Ralph Brinkhaus überraschend Volker Kauder an der Spitze der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag abgelöst.
Der teilhabepolitische Sprecher der Linksfraktion, Sören Pellmann, sagte der dpa, die Wahlrechtsausschlüsse müssten unverzüglich aufgehoben werden, damit alle an der Europawahl teilnehmen können.
Die Grünen-Expertin für Behindertenpolitik, Corinna Rüffer, kritisierte: „Die Koalition hat erneut verschlafen, die diskriminierenden Wahlrechtsausschlüsse für Menschen, die eine gesetzliche Betreuung haben oder in einer forensischen Psychiatrie untergebracht sind, rechtzeitig vor der Europawahl zu streichen.“ Sie sagte der dpa, selbst wenn die Koalition ihren Gesetzentwurf noch vor der Europawahl einbringe, sei es zu spät. Die Wählerverzeichnisse könnten wohl kaum so kurzfristig angepasst werden, meinte sie. „Das ist enttäuschend und bitter für die Betroffenen.“
Für Dusel ist es nicht das einzige drängende Thema. „In vielen Bereichen wird Barrierefreiheit einfach nicht mitgedacht“, beklagte er. „Zum Beispiel ist Geld abheben für viele sehbehinderte Menschen ein echtes Problem, weil jeder Geldautomat anders funktioniert.“
Barrierefreiheit müsse ein Qualitätsstandard werden, sagte er. „Von den Arztpraxen bis zu Internetseiten.“ Trotz seiner Fähigkeit zu Innovationen sei Deutschland in diesem Bereich anderen Ländern deutlich hinterher. „Ich möchte in einem Land leben, in dem alle Menschen die gleiche Wertschätzung genießen.“
Quelle: dpa