Vom Kindsein im Alter

© Isis Struiksma

© Isis Struiksma

Natürlich ist die Hilfsbedürftigkeit eines alten Menschen nicht gleichzustellen mit der eines Kindes. Trotzdem gibt es Parallelen – und diese könnten wir nutzen. Ein Kommentar von Stella Hombach

Viele Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Bei Kindern, insbesondere den kleinen, ist das manchmal vielleicht lästig, es bereichert aber auch – jedenfalls die Familie. Bei Älteren ist die Perspektive eine andere. Dabei ähnelt ihre Art der Hilfsbedürftigkeit der von Kindern durchaus.

Nur darf das niemand sagen. Nicht laut und auch nicht leise. Allein das Aussprechen dieser Parallele gilt vielen als Provokation und als respektlos. Der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald war hier versöhnlicher. In “Der seltsame Fall des Benjamin Button”, der 2008 mit Brad Pitt und Cate Blanchett verfilmt wurde, erzählt er die Geschichte eines Mannes, der mit der welken Haut eine Greises geboren wird und am Ende mit dem dementen Geist eines 85-Jährigen im Körper eines Babys stirbt. Es ist eine Entwicklung entgegen den Uhrzeigersinn. Eine Erzählung, in der Aufwachsen und Altwerden bildhaft ineinandergreifen.

Hilfsbedürftigkeit als Bedrohung?

Die Hilfe, die viele im Alter brauchen, mit der eines Kindes zu vergleichen, ist ein Tabu. Denn: Im Gegensatz zu dem kleinen Knirps hat der 80-Jährige doch schon ein Leben gelebt. Er hat Überzeugungen gesammelt, Meinungen vertreten und seine Selbstständigkeit unter Beweis gestellt. Für viele ist der Vergleich deshalb nicht nur eine Herabsetzung: Er ist eine Bedrohung. Bei der Gegenüberstellung geht es jedoch nicht darum, Jung und Alt auf eine Stufe zu stellen. Es geht darum, Parallelen aufzuzeigen und die Frage zu stellen, was der Mensch mit ihnen anfängt. Hilfsbedürftigkeit ist keine Gefahr. Sie ist eine Entwicklung, vor der niemand die Augen verschließen muss.

Gerade heute fällt es vielen Menschen schwer, das zu akzeptieren. In den letzten Jahren hat sich nicht nur der Umgang mit dem Alter, sondern auch das Bild vom Alter geändert. Aktiv und gesund zu sein, ist zur neuen Leitlinie geworden. Nicht nur der 20-, auch der 80-Jährige muss auf seine Art “funktionieren”. Hilfsbedürftigkeit ist keine Option. Altersgerechte Hilfsmittel wie ergonomisches Besteck, der angepasste Toilettensitz oder auch die Schnabeltasse sind beim Kind vielleicht niedlich. Im Alter haben sie jedoch etwas erschreckend Fremdes.

Natürlich gleicht die Hilfsbedürftigkeit eines Kindes nicht der eines Erwachsenen. Wo das Kind noch nicht kann, kann der Alte nicht mehr. Altwerden und Großwerden folgen jeweils unterschiedlichen Richtungen. Und das gilt nicht nur für den Körper. Eröffnet sich dem einen die Welt, so beginnt sie beim anderen – mit nachlassender Vitalität und Beweglichkeit – zusehends zu schrumpfen. Der Expansionsdrang des Kindes verfliegt, im Alter folgt oft der Rückzug.

Das Lernen hört im Alter nicht auf

Doch dieser Vorgang gehört zum Leben. Kein Tabu kann das ändern. Im Gegenteil: Hilfe zu brauchen, ist nichts Schlimmes. Die Parallele des alten Menschen zum Kind zu sehen, kann dabei helfen, den eigenen Umgang mit dem Thema Hilfsbedürftigkeit zu hinterfragen. Wie Kinder irgendwann lernen müssen, auch ohne die Hand ihrer Mutter zu laufen, so müssen wir im Alter vielleicht lernen, sie wieder anzunehmen. Um es mit den Worten Fitzgeralds auszudrücken: “So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom und treiben doch stetig zurück dem Vergangenen zu.”

 

Isis Struiksma

Isis Struiksma

Isis Struiksma, geboren in Amsterdam, lebt und arbeitet seit 2013 als Illustratorin und Designerin in Berlin. Für das Ihre Gesundheitsprofis MAGAZIN wird sie 2015 die Texte in der Rubrik “Meinung” illustrieren.