„Wie viel anders bläst der Wind, wenn wir leichter sind als letzte Woche?“

„Wie viel anders bläst der Wind, wenn wir leichter sind als letzte Woche?“

Foto: picture alliance/Arco Images GmbH

Sein Gewicht beschäftigt Stephan Noller seit langem – auch, weil es von Freunden und Arbeitskollegen ständig kommentiert wird. Uns erzählt der 47-Jährige, warum er seinen Körper heute so akzeptiert, wie er ist und was autofreie Siedlungen und die Abschaffung von Frontex damit zu tun haben.

Ich wäre gerne zehn Kilo leichter. Könnten auch 15 sein. Das wäre ich gerne seit gut 20 Jahren, könnten auch 25 sein. Damals hatte ich mit dem Rauchen aufgehört und mir die zusätzlichen Kilos angefressen. Seitdem ist das ein beherrschendes Thema, wenn auch häufig nur so unterschwellig. Meine Großmutter beispielsweise pflegte in ihren letzten Jahren grundsätzlich zu sagen, wenn sie mich sah „Du bisch aber dick gworde“. Übrigens unabhängig davon, ob das wirklich der Fall war.

Wie weil viel ich wann wog, wusste ich tatsächlich immer relativ genau – denn mein Hirn führte ständig Buch und kannte das ungefähre Gewicht zwölf Monate zurück oder zwei Jahre oder zum Zeitpunkt des Abiturs oder des letzten Klassentreffens oder vier Jahre zurück, als ich meinen Ex-Chef zum letzten Mal sah, als er auch statt erstmal ‚Hallo’ zu sagen, meinte ich sei ja ganz schön dick geworden.

„Die Mittelmeer-Diät, warum Öl so wichtig ist“

Meine Freunde beschäftigt mein körperlicher Zustand übrigens genauso. Woher ich das weiß? An den ganzen „Oh, er hat ja abgenommen, läuft er wieder?“- oder „Oh, er hat ja wieder ganz schön zugelegt, läuft er nicht mehr?“-Bemerkungen. Mir tun sie manchmal leid. Denn das sie solche Betrachtungen abringen können, heißt ja, dass sie in ihren Köpfen genauso viel Buchführen wie ich.

Ich habe übrigens nicht viel Diät-Erfahrung, ist mir zu blöd. Aber natürlich habe ich – heimlich oft – zahllose Artikel und Studienergebnisse und „Fett vermeiden!“, „Kohlenhydrate vermeiden!!“, „Neue Studien belegen: Kohlenhydrate sind gut!“ und „Die Mittelmeer-Diät, warum Öl so wichtig ist“ Artikel in mich reingefressen. Das heißt, ich weiß bei jedem Lebensmittel wenigstens grob Bescheid, wie viele Kalorien es hat und wie schwarz es meine Energiebilanz mal wieder verfärben wird, wenn ich es esse.

Natürlich habe ich mich auch quantified, habe runtastische Aktivitäten gestartet und um Anfeuerung in sozialen Netzwerken gebeten, habe meine Wage ins Netz gehängt und lasse mich per App über den Verlauf informieren. Blutdruck habe ich auch, unnötig zu erwähnen, inklusive App übrigens.

Und dann – jetzt, zum Sommeranfang, wenn man mit Angstschweiß an den Schrank geht, um den Stapel unten mit den kurzen Hosen rauszuholen, gibt es wieder diesen anderen Moment: Nach tagelang aufgestauten Schuldgefühlen, weil man ja bestimmt wieder fetter geworden ist (und die Waage gerade einfach mal meidet) – da passen einfach alle Hosen aus dem letzten Jahr noch. Hm? Und die Jeans, die man für die Gartenarbeit anzieht, passt auch noch (ok, bisschen zwickig), aber die hat man vor fünf Jahren gekauft.

Essen ist ein Hirn-Beschäftigungsprogramm

In diesen Momenten denke ich: What the fuck! Was beschäftige ich mich eigentlich tagaus, tagein mit diesem total blödsinnigen Thema, nur um dann festzustellen, dass es eigentlich nur eine Sinuskurve mit fünf Kilo rauf oder runter ist, die ich halt mal mit maximalem Sport- und Essensterror runterdrücke oder eben mit Schuldgefühlen und Wagenvermeidungsterror hochlaufen lasse. Wie viel Braintime bitte geht dafür drauf, mit Nachdenken über Essen oder nicht Essen, Schuldgefühlen, Apps ablesen, Freunde nicht besuchen, weil sie einen zuletzt beim unteren Punkt in der Sinuskurve gesehen haben, dämliche Studien lesen usw.

Das ist wirklich ein grandioses Hirn-Beschäftigungsprogramm. Nicht nur für mich, sondern auch für all die anderen, die immer schön mit-messen. Zumal man bei den anderen vermuten kann, dass ihre Aufmerksamkeit für das Thema auch nicht aus Sorge um meinen Zustand, sondern viel mehr aus eigener krankhafter Aufmerksamkeit für das Thema gespeist wird. Daher die Vermutung: Die meisten von ihnen werden bestimmt nicht nur meinen Zustand im Monitoring haben, sondern auch ihren eigenen sowie den von zig anderen Freunden, dem Partner und der Kindern. Auf das bloß nicht alle zu dick werden, GOTT BEHÜTE!

Was ist bitte eigentlich so weltbewegend toll daran, fünf Kilo weniger zu wiegen, was genau ist dann eigentlich besser, also in Syrien zum Beispiel oder was die Verschmutzung der Meere anbelangt, oder in der Liebe – wie viel anders bläst der Wind in den Wipfeln, wenn wir leichter sind als letzte Woche?

Wie wäre es, wenn wir diese Braintime für andere Dinge einsetzten – beispielsweise für mehr Gerechtigkeit, bessere Bedingungen für alleinerziehende Mütter, Abschaffung von Frontex, selbstbestimmteres Leben im Alter, Weltfrieden, autofreie Siedlungen, neue Energieversorgungskonzepte, Politik! Mit all der verschleuderten Braintime könnten wir vermutlich alle locker in eine Partei eintreten und mit links diverse Ortsversammlungen mitmachen und Papiere verfassen und dabei noch ein Instrument erlernen und Gedichte verfassen. Und dabei unbemerkt mal ein bisschen mehr und mal ein bisschen weniger wiegen.
Und wenn Freund aufeinandertreffen, könnte man sagen – was, Du bist jetzt auch in eine Partei eingetreten, cool! Oder: Wow, Du hast viel über neue Konzepte in der Energieversorgung nachgedacht, das sieht man.

Die Wolken betrachten

Anders gefragt: Wenn man ein Programm aufsetzen wollte, um eine Gesellschaft möglichst kollektiv ruhigzustellen und mit Schuldgefühlen auszustatten und dabei am besten auch noch den Konsum anzukurbeln, was würde man wohl tun?

Ich hab es jedenfalls satt (sic!). Ich will nicht mehr darüber nachdenken und auch nicht mehr darauf angesprochen werden. Und wenn ich die freiwerdende Zeit mit der Betrachtung von Wolkenformationen beim Vorbeifahren an Bielefeld verbrächte, es wäre besser investiert.

Graue, tiefhängende Wolken mit hier und dort weißen Auftürmungen in Bodennähe. Irgendetwas scheint sich da oben zu spiegeln von der Landschaft, in dem in sich verwobenen dichten Wolkenteppich.

 

Stephan Noller | Foto: Maxi Uellendahl

Zum Autor

Stephan Noller ist 47, Diplom-Psychologe und Unternehmer. Der Artikel „Wie viel anders bläst der Wind, wenn wir leichter sind als letzte Woche?“ ist zuerst auf seinem Blog „Beimnollar“ erschienen.