„Wenn Erwachsene anfangen zu glotzen“

© Erwachsene Geschwister

© Erwachsene Geschwister

Anna, Gertrud, Rike und Marie* sitzen am Tisch eines kleinen Cafés in Berlin-Steglitz. Sie kennen sich durch den Stammtisch der „Erwachsenen Geschwister“, das ist eine Initiative für Menschen, die einen Bruder oder eine Schwester mit Behinderung haben. Die Biografien der vier Frauen sind unterschiedlich. Und auch mit der Behinderung der Schwester oder des Bruders geht jede anders um.

Redaktion: Was bedeutet es, mit einem Bruder aufzuwachsen, der das Down-Syndrom hat?

Anna: Jeder bei uns wusste, wer mein Bruder war und was er hatte. Wir lebten damals in einem kleinen katholischen Dorf in Bayern. Eigentlich idyllisch, aber eine Behinderung galt dort vielen noch als Strafe Gottes.

Marie: Oh Gott! So etwas gab es bei uns zum Glück nicht. Meine Schwester ist jünger als ich. Ich bin mit ihrer Krankheit – Epilepsie – groß geworden. Was ich mitbekam, waren ihre Krämpfe abends im Bett, die Sorgen meiner Eltern, die Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser. Das machte mir oft Angst.

Rike: Das kenne ich. Mein Bruder sitzt im Rollstuhl und hat spastische Anfälle. Für mich ist das Normalität, trotzdem sind die Krämpfe immer wieder erschreckend. Wirklich gesprochen haben wir darüber nicht.

Gertrud: Bei uns war die Auseinandersetzung mit der Behinderung meines Bruders eigentlich nie Thema. Allerdings habe ich auch sieben Geschwister. Für ausgiebige Gespräche war da nur selten Zeit …

Marie: … und selbst wenn: Manche Fragen lassen sich einfach nicht stellen. 

Die Geschwister

Anna ist die älteste der vier Frauen. Sie ist 60 Jahre alt und hat einen älteren Bruder mit Down-Syndrom. Gertrud ist 52. Ihr jüngster Bruder hatte mit fünf Jahren einen schweren Unfall. Seitdem hat er unter anderem eine Spastik und eine Sprechstörung. Rike ist 34. Ihr Bruder ist älter als sie. Seit seiner Geburt hat er eine schwere Tetraspastik. Marie ist 20 und damit die Jüngste in der Runde. Ihre Schwester ist autistisch und hat epileptische Anfälle.

Ich wollte einen Bruder, mit dem ich angeben konnte

Welche Fragen wären das?

Marie: Zum Beispiel: „Warum bin ich immer nur die Nummer zwei?“ Meinen Eltern diese Frage zu stellen, habe ich mich nie getraut. Ich wollte ihnen ja kein schlechtes Gewissen machen.

Gertrud: In deinem Alter konnte ich das auch nicht. Aber mit den Jahren habe ich gelernt, meine Gefühle in Worte zu fassen – auch gegenüber meinen Eltern.

Anna: Ich glaube, die meisten Eltern wissen auch, dass die anderen Kinder zu kurz kommen. Nur schaffen es die wenigsten, sich das einzugestehen und sich tatsächlich Hilfe zu suchen. Darunter leiden dann nicht nur die Eltern, sondern auch wir Geschwister.

Marie: Das stimmt. Schon als Kind war mir klar: „Du musst funktionieren.“ Am Ende entwickelte ich eine Essstörung und musste in die Klinik. Danach ging ich nicht wieder zurück zu meiner Familie, sondern zog ins betreute Wohnen. Mich so von meiner Familie abzugrenzen war schmerzhaft, aber nötig. Heute kann ich Stopp sagen, wenn meine Mutter mich anruft und mir erzählt, was zu Hause alles schiefläuft.

Anna: So extrem war es bei mir nicht. Allerdings schickten meine Eltern mich sehr früh aufs Internat. Gefallen hat es mir dort nicht, trotzdem war die Entscheidung richtig. Damals litt ich oft darunter, keinen älteren Bruder zu habe, mit dem ich angeben konnte.

Hast du dich für ihn geschämt?

Anna: Manchmal. Auch bei „Downies“ gibt es schöne und nicht so schöne. Mein Bruder ist halt nicht so schön. Er ist ein bisschen dick und hat eine lange, rissige Zunge, die ihm häufig aus dem Mund hängt. Im Restaurant starrten uns die Leute deshalb oft an. Dann trat ich ihn unterm Tisch gegen das Schienbein. Am Ende hatte er blaue Flecken. Dafür schäme ich mich immer noch.

Gertrud: Einen nicht behinderten Bruder hättest du vielleicht auch getreten.

Anna: Aber nicht so doll. Ehrlich gesagt ist es mir bis heute unangenehm, wenn uns die Leute auf der Straße anstarren. Wenn mich mein Bruder in Berlin besucht, überlege ich zweimal, ob wir mit der U-Bahn fahren oder doch das Auto nehmen.

Mit ihrem Schicksal werden betroffene Familien oft alleingelassen

Gertrud: Wenn Kinder neugierig schauen, ist das in Ordnung. Aber wenn ich mit meinem Bruder auf den Weihnachtsmarkt gehe und Erwachsene anfangen zu glotzen, finde ich das unmöglich. Das macht mich wütend.

Rike: Meine Mutter hat immer gerufen: „Wollt ihr noch ein Passbild von ihm?!“ Ich habe die Blicke ignoriert. Aber wenn Sprüche von anderen Kindern kamen, prügelte ich mich für ihn. Das war der Beschützerinstinkt.

Marie: Bei Sätzen wie „Bist du behindert, oder was?“ habe ich immer versucht wegzuhören. Getroffen haben sie mich trotzdem. Damals habe ich mich oft allein gefühlt.

Rike: Das kennen wir eigentlich alle. Ich finde, dass Familien mit behinderten Kindern mit ihrem Schicksal ziemlich alleingelassen werden.

Aber es gibt doch Hilfsangebote.

Rike: Na klar, aber oft kennen die betroffenen Familien die gar nicht. Heute gibt es auch viel mehr Angebote. Nachtpflege, Selbsthilfegruppen oder Stammtische wie diesen hier. Das kann man jetzt einfach googeln.

GESCHWISTER

„Erwachsene Geschwister“ ist eine Initiative für Erwachsene, die einen Bruder oder eine Schwester mit Behinderung haben. Sie betreibt einen Blog, auf dem die Geschwister sich vorstellen und ihre persönliche Geschichte erzählen können. Darüber hinaus vermittelt die Initiative den Zugang zu regionalen Stammtischen. Hier können sich erwachsene Geschwisterkinder im Gespräch miteinander austauschen.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. hat Anfang des Jahres das Online-Portal GeschwisterNetz gestartet. Auch hier können erwachsene Geschwister von Menschen mit Behinderung ihre Erfahrungen miteinander teilen.

Gertrud: Nur wollen das viele gar nicht. Eltern, aber auch Geschwister denken: „Wir brauchen das nicht“ oder„Wir schaffen das alleine“. Bei uns zu Hause bin ich die Einzige, die zu solchen Treffen geht und sich mit dem Thema auseinandersetzt.

Anna: Wichtig ist auch, dass betroffene Eltern sich mal eine Auszeit gönnen und ohne ihr behindertes Kind in Urlaub fahren.

Rike: Das hätte meine Mutter niemals gekonnt.

Gertrud: Meine auch nicht. Ich kenne aber eine Familie, die haben zwei Kinder. Das eine hat eine Behinderung, das andere nicht. Einmal im Jahr fahren sie mit ihrem gesunden Kind zum Skifahren. Die Eltern tanken auf und das Kind hat Vater und Mutter mal ganz für sich. Ich finde das toll.

Habt Ihr etwas mitgenommen, was ihr ohne ein behindertes Geschwisterteil vielleicht nicht gelernt hättet?

Gertrud: Feingefühl und Belastbarkeit. Ich habe supersensible Antennen, fühle mich gut in andere Menschen ein und gehe in Krisen nicht unter.

Ein Bauernhof für Menschen mit Behinderung

Marie: Man muss aber auch aufpassen, kein Helfersyndrom zu entwickeln. Zu sensibel zu sein, ist auch nicht gut. Ohne den nötigen Egoismus vergisst man sich selbst. Das Positive kann halt leicht ins Negative umschlagen. Hieraus die richtige Mischung zu finden, ist die Kunst.

Gertrud: Das stimmt. Dass ich nicht nur für das Leben anderer verantwortlich bin, sondern auch ein eigenes habe, musste ich tatsächlich erst lernen. Persönlich klar geworden ist mir das vor allem durch meine eigenen Kinder.

Hast du dich damit auseinandergesetzt, dass deine Kinder auch eine Behinderung haben könnten?

Gertrud: Ja. Deshalb habe ich auch jede Form der Pränataldiagnostik abgelehnt. Ich wusste, ich würde jede Behinderung akzeptieren, aber ich wollte darüber nicht entscheiden müssen.

Anna: Das hätte ich mich nicht getraut. Tatsächlich habe ich mich bewusst gegen eigene Kinder entschieden. Die Verantwortung war mir einfach zu groß.

Rike: Ich habe nicht mal Zeit für einen Hund. Ein Kind wäre – so schlimm es klingt – noch etwas, das ich „wegorganisieren“ müsste. Momentan kümmere ich mich nicht nur um meinen Bruder, sondern auch um meine Mutter. Sie hatte kürzlich einen Schlaganfall.

Marie: Leben die beiden bei dir?

Rike: Nein. Mein Bruder lebt bei meiner Mutter, aber ich bin eigentlich jeden Tag bei ihnen.

Gertrud: Das wäre mir zu viel. Als ich und mein Mann unser Haus bauten, rief meine Mutter an und fragte, ob wir nicht Geld gebrauchen könnten, um ein größeres zu bauen. Dann könnte später mein Bruder zu uns ziehen.

Rike: Hast du das Geld angenommen?

Gertrud: Nein. Ich liebe meinen Bruder, aber das wollte ich nicht. Seit zwei Monaten lebt er auf einem Bauernhof für Menschen mit Behinderung. Dort gefällt es ihm ziemlich gut.

Vielleicht nehme ich sie später zu mir

Anna: Das hätte ich mir auch gewünscht. Leider haben meine Mutter und ich den Zeitpunkt dafür verpasst. Heute ist mein Bruder zu alt für eine solche Veränderung.

Wo lebt er heute?

Anna: Auch bei meiner Mutter. Wenn das nicht mehr geht, nehme ich ihn zu mir. Ein bisschen Angst habe ich schon – schließlich ist meine Mutter 88.

Gertrud: Braucht dein Bruder intensive Pflege?

Anna: Schon. Etwa beim Waschen und Rasieren. Was er jedoch auch braucht, ist Aufmerksamkeit. Mein Bruder liebt Fußball. Am liebsten würde er jeden Tag zu Hertha gehen. Leider spielen die nicht jeden Tag und ich könnte mir das auch gar nicht leisten. Aber irgendwie kriegen wir das schon hin.

Marie: Meine Eltern überlegen gerade, ob ein Heim nicht das Beste für meine Schwester wäre. Früher hätte ich bei dem Gedanken geheult. Heute finde ich die Vorstellung in Ordnung. Ich schließe allerdings nicht aus, dass ich sie später mal zu mir nehmen werde.

*Die Namen sind von der Redaktion geändert.