Schleichend in die Sucht

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Bis zu einer Million der über 65-Jährigen in Deutschland sind medikamentenabhängig. Vor allem bei der Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln ist der Übergang zur Sucht oft fließend. Die Symptome einer Abhängigkeit werden leicht mit denen der Demenz verwechselt. 

“Erst eine. Dann zwei. Dann drei: Wie viele waren das noch mal?” Es sind so viele Medikamente, ob Tabletten, Zäpfchen oder Tropfen, die gerade ältere Menschen einnehmen müssen. Oft sind es zu viele. Die meisten werden gegen Bluthochdruck, bei Herz-Kreislauf-Problemen, zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie Diabetes, aber auch bei psychischen Störungen oder Schlafproblemen verordnet.

Vorsicht bei mehr als fünf Wirkstoffen

35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen über 65 Jahre bekommen mehr als neun Arzneimittelwirkstoffe zur Dauertherapie verschrieben. Dabei gilt lediglich die Einnahme von vier bis fünf Wirkstoffen als verträglich. Teil des Problems ist, dass gerade Personen über 65 Jahre in der Regel nicht einen, sondern eine Vielzahl von Ärzten (Hausarzt, Gynäkologe, Augenarzt etc.) aufsuchen und sich diese wiederum nicht ausreichend untereinander abstimmen. Aber auch die in der Apotheke, in der Drogerie oder im Supermarkt frei erhältlichen, selbst gekauften Medikamente können die Anzahl der täglich eingenommenen Tabletten nach oben treiben und zu Neben- und Wechselwirkungen führen.

Bis zu eine Million Menschen über 65 Jahre sind medikamentenabhängig

Bei richtiger Dosierung und Verordnungsdauer ist das kein Problem. “Oft werden Medikamente jedoch nicht nur über Wochen, sondern über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte verschrieben und eingenommen”, sagt Prof. Gerd Glaeske, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung an der Universität Bremen und seit Jahren auf die Medikamentensucht im Alter spezialisiert. Dabei haben insbesondere Beruhigungs- und Schlafmittel, wie etwa Benzodiazepine, ein hohes Abhängigkeitspotenzial. Glaeske schätzt, dass in Deutschland mindestens eine Million Menschen im Rentenalter medikamentenabhängig sind.

Belastbare Daten zum Thema Sucht im Alter gibt es kaum – ob bei Psychopharmaka, Tabak oder Alkohol. Genannte Zahlen beruhen weitestgehend auf Schätzungen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) geht insgesamt von 1,4 bis 1,9 Millionen Medikamentenabhängigen in Deutschland aus. Rund zwei Drittel von ihnen seien Personen über 65 Jahre, vor allem Frauen. Schaut man sich die verordneten Medikamente dann genauer an, verzeichnet die DHS einen “exponentiellen Anstieg mit zunehmendem Alter”.

Benzodiazepine – “Mutters kleine Helfer”

Bestes Beispiel sind die Benzodiazepine. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass bei 90 Prozent der mit Benzodiazepinen behandelten Patienten derzeit eine Dauermedikation von mehr als sechs Monaten vorliegt und dass bis zu 50 Prozent der Patienten das Medikament täglich einnehmen. Erste Hinweise auf körperliche Entzugssymptome, die diese Medikamentengruppe hervorrufen, gab es bereits Anfang der 60er Jahre. 1966 besangen die Rolling Stones die kleine gelbe Pille als “Mother‘s little Helper” und spielten mit ihrem Song offen auf den Missbrauch an.

Trotzdem wurden die Verordnungen hierzulande fortgesetzt. Erst 1984 wurde der Hinweis auf die Abhängigkeitsgefahr bei diesen Wirkstoffen in die Rote Liste eingefügt, das Arzneimittelverzeichnis für Ärztinnen und Ärzte. Die Herstellerfirma Hoffmann-La Roche hatte diese problematische “Nebenwirkung” über Jahre verschwiegen. 2009 meldete die DHS zwar, die Verschreibungen seien seit dem Jahr 1992 um gut die Hälfte zurückgegangen. Der Arzneiverordnungs-Report von 2013 spricht sogar von einem Benzodiazepin-Rückgang von bis zu 75 Prozent.

Symptome werden falsch gedeutet

Ein Grund zur Entwarnung ist das nicht. “Die Benzos werden jetzt einfach durch andere, wirkstoffähnliche Medikamente wie Zolpidem oder Zopiclon ersetzt”, weiß Prof. Glaeske, “und zu mehr als der Hälfte auf Privatrezept verschrieben.” So tauchen sie auch in den offiziellen Statistiken der gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr auf. Im Jahr 2011 wurde das Präparat Stilnox mit dem Wirkstoff Zolpidem beispielsweise in bis zu 74,9 Prozent aller Fälle als Privatrezept verordnet. Damit wurde es vom Patienten selbst bezahlt und wird in der Statistik nicht aufgeführt.

Benzos auf Privatrezept

Auch die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheken (AMK) führte im Jahr 2012 eine Umfrage unter mehr als 800 Referenzapotheken zum Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial von Schlaf- und Beruhigungsmitteln durch. Wie Glaeske kam auch sie zu dem Ergebnis, dass bei 57,5 Prozent der Verschreibungen von Z-Hypnotika und Benzodiazepinen Hinweise auf Missbrauch bestünden. Bis zu 43 Prozent der Verordnungen liefen auf Privatrezept. Bei näherer Begutachtung des Personenkreises fiel auf, dass die Patienten überproportional oft älter als 65 Jahre waren. Ebenso hieß es in dem Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2009: “Ein nicht unerheblicher Verordnungsanteil, u. a. von Benzodiazepinen für ältere GKV-Versicherte, entfällt auf Privatrezepte, offenbar eine zunehmende Strategie von Vertragsärzten, (…) um den Diskussionen von Kassen- oder Krankenversicherungsseite (…) zu entgehen.”

Trotz des Wissens um die Suchtrisiken dieser Arzneimittel gehen die meisten weiter unbedacht mit ihnen um. Ein wichtiger Grund: Anders als Alkohol und Tabak werden Medikamente vom Arzt verordnet. Damit entfällt meist die eigene Beschäftigung mit dem Thema. Außerdem lassen sich viele Suchtsymptome leicht missdeuten. Motorische Einschränkungen, Antriebs- und Interesselosigkeit, aber auch Stimmungsschwankungen können Anzeichen einer sich entwickelnden Demenz oder Depression sein. Ebenso gut können sie aber auch erste Hinweise auf eine Medikamentenabhängigkeit geben. Das gilt auch bei einer Verminderung sozialer und freizeitlicher Aktivitäten: Diese können sowohl alters- wie auch suchtbedingt sein.

Der Arzt als Mitwisser

Oft wissen Ärzte und Apotheker selbst nicht genug über die Wirkungen von Medikamenten, gerade bei älteren Menschen – oder sie gehen nicht verantwortungsbewusst genug mit Verschreibungen und deren Langzeitgefahren um. Mitunter fehlt auch die Abstimmung zwischen Haus- und Facharzt sowie eine engagierte Aufklärung von Patienten über die abhängig machende Wirkung der verschriebenen Tabletten.

Der Journalist Hannes Grassegger berichtete im SZ-Magazin 42/2012 von der Benzodiazepine-Abhängigkeit seiner Großmutter. Auch er benennt den Wirkstoff als “Einstiegsdroge” seiner Großmutter und beschreibt, wie schwierig es für alle Beteiligten war, die Sucht zu erkennen. Entgegen der normalen Verordnungsdauer nahm sie ihre Tabletten nicht nur über einige Wochen, sondern gleich über drei Jahrzehnte. Mit Wissen und auf Verordnung des Arztes. Die Symptome wurden zuerst auch bei ihr als Demenz fehlgedeutet. Als die Familie dann schließlich den Arzt mit seiner Fehlbehandlung konfrontierte, sagte er nur: “So ist das Alter halt.”

 

Weitere Informationen erhalten Sie bei der Initiative Unabhängig im Alter der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.