Professor Ingo Groböse von der Deutschen Sporthochschule Köln ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Fitness im Alter. Wir sprachen mit ihm über den Sinn und Unsinn von Hilfsmitteln und den Umgang mit dem Begriff Barrierefreiheit. Sein Fazit: Unsere Selbstständigkeit erhalten wir uns am besten, indem wir uns bewegen.
Redaktion: Die Begriffe “Alter” und “Aktivität” werden in unserer Gesellschaft oft als Gegensatz gesehen. Zu Recht?
Ingo Fröböse: Das Älterwerden wird in der Öffentlichkeit zunehmend als “Krankheit” kommuniziert, was einfach falsch ist. Auf der anderen Seite ist der Mensch von sich aus tatsächlich eher faul. Also nimmt er Annehmlichkeiten gerne an. Beides ergänzt sich perfekt – leider nicht immer zum Guten.
Fitness fördert Selbstständigkeit
Aber mit dem Alter verliert der Körper nun mal an Leistungsfähigkeit …
Aber bei weitem nicht so stark, wie wir es gemeinhin glauben. Gerade ältere Menschen könnten mit relativ wenig Aufwand ihre körperliche Verfassung stark verbessern, sich damit besser fühlen und mit hoher Wahrscheinlichkeit länger selbstständig leben.
Geben ältere Menschen einen Teil ihrer Eigenständigkeit zu schnell auf, indem sie voreilig zu einem Hilfsmittel greifen?
Nicht nur ältere, auch ein Großteil der jungen Leute tut das. Anstatt die Treppe zu nehmen, wird gewartet, bis der Aufzug kommt und einem die Arbeit abnimmt. Natürlich ist das bequem. Aber letztlich ist das ein Untergraben der eigenen Fitness.
Nun ist ein medizinisches Hilfsmittel ja doch etwas anderes als ein Fahrstuhl …
Das ist unstrittig. Ab einem bestimmten körperlichen Stadium sind Hilfsmittel notwendig. Eins sollte man aber vor Augen haben: Habe ich mich erst einmal an ein Hilfsmittel gewöhnt, kann eine “Entwöhnung” ein schwieriges Unterfangen sein.
Die Einstellung entscheidet
Rollatoren oder die Haltegriffe an Toiletten sind also überflüssig?
Nicht überflüssig, nur sollte sich jeder darüber im Klaren sein, in welcher Intensität er sein Hilfsmittel nutzt. Wie bei Medikamenten kommt es auch hier auf die Dosierung an. Es ist gut, den Rollator mal in der Ecke stehen zu lassen. Aber das muss man sich auch trauen.
Der Körper ist also gar nicht der eigentliche Schwachpunkt?
Fußballtrainer sagen: “Spiele werden im Kopf entschieden.” Das trifft auch auf andere Bereiche des Lebens zu. Der viel zitierte “innere Schweinehund” hat seinen Namen nicht zu Unrecht: Er steht einem massiv im Weg, sei es aus Faulheit oder aus Angst. Ihn zu überwinden braucht einen starken Willen.
Haben Sie ein Beispiel?
Bewohner eines italienischen Altenheims, alle über 80 Jahre alt, absolvierten im Rahmen einer Studie zwölf Wochen lang regelmäßig ein Krafttraining – einfache Übungen zum Muskelaufbau. Jeder Fünfte aus der Gruppe wollte danach das Heim verlassen. Die Menschen fühlten sich körperlich fitter und hatten ihre Selbstständigkeit, ihr Selbstvertrauen zurückerlangt. Übrigens: Im Reha-Sport sehen sie so etwas tagtäglich.
Barrierefreiheit hat auch Nachteile
Das Wort “Barrierefreiheit” muss Ihnen da ja wie ein Schimpfwort vorkommen. Wollen Sie mit Ihren Aussagen provozieren?
Natürlich … ich möchte aufwecken! Laut der Definition der WHO erfüllen gerade einmal 57 Prozent der Bevölkerung die minimalen Bewegungsanforderungen, um völlig eigenständig leben zu können. Auf dieser Grundlage erscheint mir die unkritische Diskussion zur Barrierefreiheit doch sehr fragwürdig.
Landkarte zum Mitmachen
Die „Wheelmap“ ist eine interaktive Online-Karte zum Suchen und Finden rollstuhlgerechter Orte. Wie bei Wikipedia kann sich jeder User an der Weiterentwicklung des Projektes beteiligen und öffentlich zugängliche Orte in der Karte markieren. Weltweit wurden bislang bis zu 470.000 Orte eingetragen und auf ihre Rollstuhltauglichkeit bewertet; etwa zwei Drittel davon befinden sich in Deutschland. Mit einem einfachen Ampelsystem wird gekennzeichnet, wie zugänglich ein Ort für Rollstuhlfahrer ist. Wheelmap.org ist ein Projekt des Vereins Sozialhelden e.V. Die Karte ist sowohl auf der Website als auch als App für iPhone und Android verfügbar.
Und was kritisieren Sie jetzt?
Mit der allseits propagierten Barrierefreiheit verhindern wir, dass unser Körper gefordert und adäquat beansprucht wird. Als Folge verlieren wir nach und nach unsere Selbstständigkeit. Mit zunehmendem Alter wird das besonders deutlich. Die Menschen sollen verstehen, dass Belastungen sinnvoll und notwendig sind. Alle Barrieren wegzunehmen ist deshalb das völlig falsche Signal!
Wollen Sie wirklich, dass ich als Rollstuhlfahrerin vom Parkhaus bis in den Zug – vielleicht sogar mehrmals – Passanten um Hilfe bitten muss?
Natürlich nicht! Es muss ein klarer Unterschied gemacht werden zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Aber gerade für weniger aktive Menschen sind Alltagswege und Treppenhäuser Trainingsplätze, wie man sie sich nicht besser wünschen kann: billig, leicht erreichbar und jederzeit nutzbar. Davon spreche ich. Inzwischen gibt es ja sogar die Idee, in der Stadt Bewegungsparcours zu errichten, damit die Gesellschaft wieder aktiver wird. Das ist doch absurd! So versuchen wir nur das zu kompensieren, was wir durch die Barrierefreiheit ausgelöst haben.
Selbstbestimmung und Zufriedenheit
Selbst jungen Menschen wird heute geraten, ihre Wohnung barrierefrei zu planen. Ist das auch absurd oder ein vorausschauender Rat?
Die Zukunft im Blick zu haben, ist sicher nicht verkehrt. Man könnte es aber auch so sehen: Wenn ich mich lange fit halte, werde ich länger selbstbestimmt und damit zufrieden leben.